Im Schatten der Zarenpaläste
Den meisten Besuchern zeigt sie sich nur von ihrer schönen Seite: Die prächtige und aufstrebende Metropole an der Newa. Doch es gibt in Sankt Petersburg viele Menschen, die Hilfe brauchen. Das Hamburger Rote Kreuz engagiert sich deshalb seit vielen Jahren in der Partnerstadt. Gemeinsam mit dem russischen Roten Kreuz unterstützt es soziale Projekte für alte und behinderte Menschen, traumatisierte Jugendliche, Flüchtlinge und Obdachlose. Und für Straßenkinder wie Mickhail.
Fast täglich kommt der Jugendliche mit seinen Freunden in eine Suppenküche im Zentrum der Stadt. Die Helfer versorgen sie dort unter anderem mit Essen und versuchen, die meist schwer kranken Jungen und Mädchen dazu zu bringen, wenigstens ärztliche Hilfe anzunehmen. Manchmal gelingt es, den einen oder anderen von der Straße wegzuholen.
Mickhail lebt seit 15 Jahren auf der Straße. Er ist 22 und war sieben, als er von zu Hause weglief. „Endgültig“, wie er sagt. Warum? Über seine Eltern will er nicht sprechen, „es gab Konflikte“, deutet er leise an. Sein Blick geht dabei ins Leere. Das Leben – sein Leben – hat ihn gezeichnet: Blass und schmal ist er, unterernährt, man würde ihn für maximal 16 halten. Es ist ein sonniger, aber kalter Märztag in Sankt Petersburg. Etwa fünf Grad. Nachts sind es sicher sehr viel weniger. In seinen dreckigen Klamotten und mit kaputten Schuhen steht Mickhail vor der Suppenküche „Teresa“ im Sankt Petersburger „Mariinsky Hospital“. Die Mütze weit über beide Ohren gezogen, wartet er geduldig auf einen der Beutel mit Waschutensilien, den das Rote Kreuz an diesem Morgen zusätzlich zu einer warmen Mahlzeit ausgibt - nur wenige Hundert Meter von der Prachtmeile und Hauptgeschäftsstraße Newski-Prospekt entfernt. Dort prägen Edelboutiquen und Luxuskaufhäuser das Stadtbild. Nicht weit davon haust Mickhail im Keller eines Abbruchhauses. „Wenn es so kalt ist wie letzte Nacht, dann ziehe ich einfach viele Pullover übereinander. So komme ich auch über den Winter“, sagt er. Und fügt stolz hinzu: „In unserem Fahrstuhlschacht ist es gemütlich, da haben meine Freunde und ich sogar einen alten Fernseher“.
Mindestens 15.000 Kinder verbringen laut Unicef in St. Petersburg einen Großteil ihres Alltags auf der Straße – doch die Dunkelziffer liegt noch höher. Meist ist es ein brutaler Mix aus Armut, Alkohol und Gewalt im Elternhaus, der sie fliehen lässt. Viele hausen lieber in irgendwelchen Kellern, Fahrstuhlschächten oder auf Dachböden, als weiter bei ihren Eltern zu bleiben. „Manche Straßenkinder sind erst fünf Jahre alt. Die anderen kümmern sich dann um sie so gut es eben geht und bringen sie irgendwie durch“, erzählt die Sankt Petersburger Sozialarbeiterin Galina Butozina. Sie und ihre Kollegin Larisa Kuzmina treffen in der Suppenküche „Teresa“ fast jeden Tag auf die immer gleiche Gruppe von Halbwüchsigen, zu der auch Mickhail gehört.
Die Frauen genießen das Vertrauen der Jugendlichen und können doch nicht mehr tun, als immer wieder unaufdringlich ihre Hilfe anzubieten. Das Überleben auf der Straße ist ein täglicher Kampf: Die Kinder und Jugendlichen schlagen sich im Stadtzentrum mit Gelegenheitsjobs und Betteln durch. Viele von ihnen geraten mit dem Gesetz in Konflikt, weil sie klauen, mit Diebesgut oder Drogen handeln. Nicht wenige verkaufen ihren Körper an Freier, die auf der Suche nach billigem Sex sind. Die Kinder bewegen sich dabei in einer Welt, in der sie leicht Opfer von Gewalt werden. Manche verlieren ihr Leben - ohne dass man weiß, unter welchen Umständen. „Vor wenigen Monaten haben wir einen kleinen Jungen auf dem Treppenabsatz in einem leer stehenden Haus gefunden. Sein Genick war gebrochen“, erinnert sich Sozialarbeiterin Butozina an den Anblick, den sie „sicher niemals vergessen wird“.
Die studierte Pädagogin und die frühere Künstlerin, Larisa Kuzmina, durchkämmen seit knapp 20 Jahren gemeinsam die leer stehenden Keller der Millionenstadt. Immer auf der Suche nach ihren oft schwer kranken Schützlingen und mit der Absicht, die dazu zu überreden, wenigstens ärztliche Hilfe anzunehmen. „Schon die Kleinen gehen auf den Strich. Sie sind drogenabhängig und betäuben sich mit Lösungsmitteln“, erklärt Larisa Kuzmina. „Die meisten haben HIV, leiden unter Hepatitis und Tuberkulose“. So wie der 16-Jährige Wladimir, der sich vermutlich durch eine gebrauchte Drogenspritze mit dem HI-Virus infiziert hat. Über seine Eltern weiß der Junge mit der Irokesenfrisur nichts. Vor fünf Jahren ist er aus dem Waisenhaus geflohen, weil ihn die anderen Kinder verprügelt hatten. Oder der Heimleiter. So genau kennt seine Geschichte niemand hier. Und er selbst spricht nicht über sie. Wie er sein Leben beschreiben würde? „Alle Tage sind gleich.“ Und ob er sich etwas wünscht? Etwas, das sich verändern soll? Er schweigt. „Diese Jugendlichen leben hier und heute, sie denken nicht über das Morgen nach“, erklärt die Rotkreuz-Projektleiterin Nathalia Scharikova.
Die 23-Jährige koordiniert die Rotkreuz-Hilfe für Straßenkinder in Sankt Petersburg. „Die Kinder äußern keine Wünsche. Sie haben Angst, vor ihren Freunden dann als Träumer dazustehen und ausgelacht zu werden“, erläutert Scharikova weiter. Um ihrem tristen Alltag wenigstens für einige Stunden zu entfliehen, schnüffeln sogar schon die jüngsten Straßenkinder Toluol - ein berauschendes Lösungsmittel. Das gibt es für ein paar Rubel im Baumarkt. Neben Halluzinationen verursacht Toluol auch schwere Nervenschäden, verätzt Schleimhäute und Augen. Und macht die Kinder für Stunden gefühllos, wie Galina Butozina berichtet: „Im Winter legen sie sich in den Kellern auf die heißen Heizungsrohre, um nicht zu frieren. In ihrem Rausch merken die Kinder gar nicht, wie schlimm ihre Haut dabei verbrennt.“
Es sind Erlebnisse wie diese, die Butozina bis in den Schlaf verfolgen: „Ich habe oft geträumt, dass mich diese Jugendlichen festhalten und mir ihre Drogen spritzen, während ich mich verzweifelt wehre. Sie sagen: Hab keine Angst, es ist nicht schlimm“. Ans Aufgeben denkt die resolute Russin trotzdem nicht. Und erzählt von einer 15-Jährigen, die gerade Mutter geworden ist. Die Sozialarbeiterinnen konnten das Mädchen zu einer Entziehungskur überreden und ihr sogar einen Platz im Wohnheim vermitteln. Für Galina Butozina und Larisa Kuzmina ist das ein Sieg. So etwas passiert nicht so oft. Aber es ist das, was sie antreibt und sie weitermachen lässt mit ihrem täglichen schweren Kampf um die Straßenkinder in Sankt Petersburg.